Die magische Eiche Frank Wimmer war schwierig. Er hatte narzisstische Züge und war sehr oft übellaunig. Kein Wunder also, dass er kaum Freunde hatte. Um genau zu sein, waren es genau drei. Da wäre Bernd Haslinger zu nennen, ein Barkeeper, der sich immer Franks Gejammer anhören musste, wenn dieser wieder einmal wegen einer Lappalie in Rage geriet oder betrunken an seiner Bar saß und über sein Leben lamentierte. Wie krank er doch sei und warum er bei diesen Schmerzen unmöglich arbeiten könne. Außerdem lieh Frank sich ständig dessen Pickup aus, um diverse Erledigungen zu machen, bezahlte Bernd aber kein einziges Mal den Sprit, den er verfuhr. Der zweite war Walter Berger, ein Steuerberater mit einer kleinen, aber feinen Kanzlei, bei dem Frank sich jedes Mal Geld borgte, wenn er knapp bei Kasse war. Und Frank war ständig knapp bei Kasse. Mittlerweile hatte Frank so hohe Schulden bei Walter, dass er sie in diesem Leben kaum noch würde abzahlen können. Hin und wieder half Frank Walter bei Besorgungen, wenn der mit seiner Firma so viel Arbeit hatte, dass er nicht zum Einkaufen kam. Doch diesen Gefallen tat Frank seinem Freund nur aus Eigennutz. Denn so kaufte Frank auch immer für sich selbst eine Menge Lebensmittel ein und rechnete den gesamten Betrag von seinem Schuldenberg ab. Dann war da noch Michael Maier, ein selbstständiger IT-Techniker, bei dem Frank oft übernachtete, wenn er mal wieder lange bei Bernd in der Bar gewesen war. Oft war er zu faul, nach Hause zu fahren, oder zu geizig, um sich ein Taxi zu nehmen. Eigentlich schlief er in letzter Zeit regelmäßig bei Michael, denn seitdem er wegen ständiger Krankenmeldungen seinen Job als Verkäufer verloren hatte, nutzte er die Gastfreundschaft seines Freundes bei jeder Gelegenheit aus. Dabei nahm er keine Rücksicht auf die Uhrzeit und klingelte schon mal um 3 Uhr früh an dessen Haustür Sturm, bis dieser endlich verschlafen öffnete. Nein, Frank war wirklich kein besonders netter Mensch. Er nutzte die einzigen Freunde, die er hatte, tagtäglich auf gemeinste Art und Weise aus und verstand die Welt nicht mehr, wenn sie es wagten, etwas dagegen zu sagen. Doch die drei Männer hatten ein gutes Herz. Sie hielten es für ihre Pflicht, sich um jene zu kümmern, denen es nicht so gut ging, die nicht mit so viel Glück gesegnet waren. Also würde auch Frank Wimmer immer wieder ein offenes Ohr, etwas Geld und eine Unterkunft bei ihnen finden. Gesundheitlich ging es Frank allerdings tatsächlich nicht besonders gut. In den letzten Jahren hatte er drei Bandscheibenvorfälle erleiden müssen. Es wurde einfach nicht besser. Die Schmerzen quälten ihn und keine Therapie half. Seine Ärztin meinte schließlich, dass ihm nichts anderes mehr übrigbleibe, als sich an der Wirbelsäule operieren zu lassen. Eine Operation? Das wollte Frank auf keinen Fall. Er hasste die Schmerzen und sie waren oft so unerträglich, dass er am liebsten gestorben wäre, doch eine OP kam für ihn nicht in Frage. Das Risiko einer Verletzung oder gar Lähmung war ihm einfach zu hoch. Möglicherweise für immer an einen Rollstuhl gefesselt zu sein, war eine Vorstellung, die ihm unsagbare Angst einjagte. Er kaufte sich lieber regelmäßig legale und auch illegale Medikamente im Netz, nur um die Schmerzen einigermaßen ertragen zu können. Erst eine Woche zuvor hatte er sich bei einem Dealer, den er in der Bar von Bernd kennengelernt hatte, Marihuana besorgt. Doch nach dem kurzen Rausch kamen die Schmerzen jedes Mal wieder zurück und waren dann meistens doppelt so heftig wie zuvor. Eines Tages, Frank hatte sich wieder einmal bei Michael einquartiert, setzte er sich an dessen Computer und durchsuchte das Internet. Er wollte sich endlich von den Qualen befreien und erkundigte sich deshalb nach alternativen Behandlungen. Er fand Bewegungs-, Massage- und Physiotherapien, alles Dinge, die er schon unzählige Male versucht hatte, deren Erfolge aber nicht von langer Dauer gewesen waren. Außerdem war er unheimlich faul, wollte sich nicht unnötig bewegen. Warum sollte er auch mit starken Schmerzen Heilgymnastik machen? Sechs Tage war er bereits im Internet unterwegs gewesen genauso lange, wie er Michaels Couch und Tasche strapazierte –, als er auf eine Webseite stieß, die ihn neugierig machte. Frank war ein Mensch, der an viele Dinge glaubte. Seiner Meinung nach gab es Außerirdische, er glaubte an Wiedergeburt und auch die Magie von Hexen und Zauberern schien ihm nicht abwegig. Für ihn existierten diese Dinge, auch wenn die anderen ihn deshalb für verrückt hielten. So war es nicht verwunderlich, dass ihn die Legende von einer magischen Eiche, die Krankheiten heilen konnte, sofort in ihren Bann zog. Er wollte unbedingt mehr darüber wissen und suchte speziell nach diesem Thema. Nach drei Tagen intensiver Suche wurde er schließlich fündig. Er entdeckte einen alten Artikel, geschrieben von einem Anton Kieringer, seines Zeichens Förster, der eines Tages eine Entdeckung inmitten des Schwarzwaldes gemacht haben wollte: eine riesige Eiche, die mindestens ein paar Tausend Jahre alt sein musste. In diesem Artikel berichtete Kieringer von der wundersamen Heilung seiner Arthritis, an der er schon viele Jahre gelitten hatte und die völlig verschwand, als er ein junges Blatt des Baumes mit heißem Wasser übergoss und dieses Gebräu danach trank. Die antibakterielle und entzündungshemmende Wirkung war allgemein bekannt. Er hatte nach eigener Aussage den Rest seines Lebens keine Schmerzen mehr. Diese alte Eiche war schwer zu finden, also hatte der Autor des Artikels sogar eine selbstgezeichnete Karte zur Verfügung gestellt, die man sich ausdrucken konnte. Frank schöpfte Hoffnung auf baldige Schmerzfreiheit und druckte sich diese doch sehr ominöse Karte sogleich aus. Anschließend borgte er sich 500 Euro von seinem Freund Walter, den Pickup von Bernd und eine Thermosflasche von Michael und machte sich damit auf den Weg in den Schwarzwald. Dort wollte er in einer kleinen Pension übernachten und sich am nächsten Tag gleich auf die Suche nach der magischen Eiche begeben, die seinem Leiden ein Ende machen würde. Frank war sich sicher, er würde sie finden und er würde geheilt werden. Er war bereits drei Stunden unterwegs, als er an eine kleine Weggabelung kam. Ein kurzer Blick auf seine Karte verriet ihm, dass er auf dem richtigen Weg zur Pension Eiche war. Sie lag inmitten des Schwarzwaldes, ganz versteckt und nur dank der Karte, die Frank dabeihatte, zu entdecken. Bei seiner Ankunft sah er ein kleines, schmuckes Häuschen mit einladenden Fensterläden und hübschem Blumenschmuck vor sich. Die Eingangstür war in einem dunklen Grün gestrichen, das dem Farbton der ringsum stehenden Tannen ähnelte. Frank parkte den Pickup in dem dafür vorgesehenen Carport, stellte den Motor ab und ließ sich entspannt in den Autositz zurückfallen. Er atmete tief durch und dachte an sein bisheriges Leben. Durchzogen von Pleiten, Pech und Schmerzen. Sein Körper hatte irgendwann aufgehört, richtig zu funktionieren, doch Frank wusste genau, dass er selbst daran schuld war. Ständiger Alkoholgenuss hatte seiner Leber ziemlich mitgespielt, sodass es an ein Wunder grenzte, dass sie noch halbwegs funktionierte. Schlechte Ernährung und kaum Bewegung trugen zusätzlich dazu bei, dass seine Bandscheiben und seine Knie ihren Dienst versagten. Er hatte Schmerzen von morgens bis abends und schluckte Schmerztabletten wie andere Bonbons. Sein Körper war verseucht von schlechtem Essen, Medikamenten und Alkohol, und die paar Zigarren, die er sich hin und wieder gönnte, machten es auch nicht besser. Frank stieg aus, schnappte sich seinen Rucksack und betrat die Pension. An der Anmeldung stand eine junge, hübsche Rezeptionistin, die ihn freundlich und mit einem breiten Lächeln begrüßte. „Herzlich willkommen in der Pension Eiche!“ „Hallo, ja, danke. Ich bin Frank Wimmer, ich habe hier ein Zimmer für eine Nacht gebucht.“ „Guten Tag, Herr Wimmer. Ich habe bereits alles für Sie herrichten lassen. Hier sind die Schlüssel für Zimmer 237 im zweiten Stock. Einen schönen Aufenthalt, Herr Wimmer, und viel Spaß im Schwarzwald!“ Frank hatte plötzlich ein ganz seltsames Gefühl. Zimmer 237? Irgendwie kam ihm das bekannt vor. Doch er wischte den Gedanken beiseite und ging hoch in sein Zimmer. Es dämmerte bereits, daher wollte Frank erst am nächsten Tag losgehen, um die Eiche zu suchen. Da seine Buchung nur ein Frühstück für den kommenden Morgen beinhaltete, er das mitgebrachte Sandwich und trank eine Flasche Bier dazu. Anschließend setzte er sich aufs Bett, legte seine Füße hoch und schaltete den Fernseher ein. Der Horrorklassiker Shining von Stephen King lief. Frank ließ sich eine Weile von dem Film berieseln und schlief schließlich im Sitzen ein. Als er wieder aufwachte, war es bereits fünf Uhr früh, doch er hatte das Gefühl, kaum eine Stunde geschlafen zu haben. Frank stand auf, ging ins Bad, duschte und schlüpfte in die Wanderkleidung, die er sich – wie sollte es auch anders sein? – von seinem Kumpel Bernd geliehen hatte. Um sechs Uhr packte Frank seinen Rucksack, steckte sich die Karte in die Brusttasche und verstaute noch die Thermosflasche, die er mit heißem Wasser befüllt hatte. Er wollte so schnell wie möglich zu dieser mysteriösen Eiche, sodass er sogar freiwillig auf das gebuchte Frühstück verzichtete und sich sofort auf den Weg in den Wald begab. Es war ein diesiger Morgen. Die Sonne versuchte, die ersten Strahlen durch diese Nebelsuppe zu schicken, aber sie schaffte es nicht. Was Frank über die alte Eiche herausgefunden hatte, las sich eher unglaublich als wirklich. So sollte er angeblich Krankheiten heilen können, wenn man mit einem jungen Eichenblatt einen Tee zubereitete und diesen unter demselben Baum trank. Genau so hatte es auch der Autor Kieringer in seinem Artikel beschrieben. Für jeden Kranken nur ein Blatt. Es war Ende April und Frank war voller Zuversicht und Ehrgeiz, diesen Baum zu finden, um diese leidigen und schmerzhaften Probleme endlich loszuwerden. Frank war immer schon offen gewesen für Dinge wie Magie oder Zauberei, daher fiel es ihm nicht schwer, an diese Eiche zu glauben und daran, dass sie ihm die Schmerzen und die Krankheit für immer würde nehmen können. Außerdem hatte er nun schon so lange Zeit ständig Schmerzen, dass er bereit war, fast alles auszuprobieren, was ihm helfen könnte. Zwei Stunden lang suchte er alle Routen ab, die in dieser Gegend durch den Schwarzwald führten, doch ohne Erfolg. Langsam bekam Frank das Gefühl, dass diese Karte völlig sinnlos war. Die Wälder waren wunderschön und der Wanderweg, auf dem er sich fortbewegte, schlängelte sich mal nach links, mal nach rechts durch den Wald. Die Luft roch nach Erde, Natur und Freiheit. Frank genoss diese Wanderung in vollen Zügen und vergaß dabei fast seine Rückenschmerzen. Er marschierte über riesige Wurzeln, die aus der Erde hervorragten, über kleine Bäche, die sich ihren Weg mitten durch den Pfad bahnten, und über umgestürzte Bäume, die von der Försterei noch nicht beseitigt worden waren. Frank blieb stehen und kramte in seiner Jackentasche. Er zog die Karte heraus und studierte sie wieder und wieder. Mit neuem Schwung und voller Elan verließ er den vorgeschriebenen Waldweg und marschierte direkt in den dichten Wald. Es ging über unebenen Boden, an dichten Büschen vorbei und zwischen riesigen Tannen hindurch. Je länger er unterwegs war, desto dichter wurde der Wald. Frank musste sich gegen Ende seiner Wanderung mit seinen Händen durch das Dickicht kämpfen und wünschte sich, er hätte eine Machete eingesteckt. Plötzlich wurde es dunkler. Obwohl gerade noch die Sonne herausgeblinzelt hatte, verschwand die Helligkeit nun vollends und Frank konnte kaum mehr zwei Meter weit sehen. Doch er stapfte tapfer weiter. Immer wieder aufgehalten von losen, herumliegenden Ästen und aus dem Boden herausragenden Wurzeln, kämpfte er sich durch den Wald, immer sein Ziel vor Augen. Die Eiche. In dem dichten Unterholz schlitzte er sich seine Jacke an einem hervorstehenden Ast auf und seine Wangen wurden blutig gekratzt. Schließlich stolperte er und schlug dabei der Länge nach auf dem Boden auf. Da erblickte er in den Tiefen der Dunkelheit einen kleinen, hellen Punkt. Er rappelte sich wieder auf und schritt langsam auf das Licht zu. Es wurde heller und heller. Abrupt blieb er stehen. Direkt vor ihm funkelte und glitzerte es. Eine riesige Eiche thronte auf einer kleinen Lichtung, umgeben von Fichten und Tannen. Sie stand da und flimmerte, als wäre sie von vielen Millionen Leuchtkäfern umgeben. Frank blieb der Mund offen. Er stand wie versteinert da und bewunderte mit großen Augen dieses Monument der Natur. Vorsichtig bewegte er sich auf den mächtigen Laubbaum zu, der bis in den Himmel zu reichen schien. Als er ganz nah vor ihm stand, hörte er ein leises Summen. Es klang, als würden Tausende Bienenvölker diesen gewaltigen Baum bevölkern und ihrer Arbeit nachgehen. Einige Zentimeter trennten Frank noch von dem Stamm, der so dick war, dass es mindestens zehn Männer bräuchte, um ihn zu umfassen. Vorsichtig berührte er die von tiefen Furchen gezeichnete Rinde. „Dieser Baum hat sicher einiges erlebt“, dachte Frank, während er nach oben blickte. Ein kleiner Ast reckte sich ihm entgegen und zog damit seine Aufmerksamkeit auf sich. „War der vorher auch schon da?“, überlegte Frank leise flüsternd und hielt verdutzt seinen Kopf schief. Kleine, junge Blätter waren daran zu sehen und in diesem Moment fiel ihm wieder seine Thermoskanne ein. Schnell öffnete er seinen Rucksack, nahm die Flasche heraus, öffnete sie und rupfte ein Blatt vom Ast. Keine Sekunde später verspürte er einen stechenden Schmerz im Rücken, der ihn aufheulen und die Zähne zusammenbeißen ließ. Er sah nochmal hinauf zu diesem Ast und zupfte zwei weitere Blätter davon ab, die er mit dem ersten hastig in die Flasche stopfte. Zur Sicherheit, dreifach hielt besser. Dann verschloss er die Thermosflasche und wartete geduldig, bis das Wasser die Nährstoffe der Blätter aufgenommen hatte. Nach fünfzehn Minuten öffnete er erwartungsvoll den Drehverschluss. Er probierte einen Schluck, und als er merkte, dass der Tee schmeckte, trank er die ganze Flasche leer. Nun saß er da und wartete. Wartete auf irgendeine Wirkung. Als er den Baum betrachtete, sah er, dass dieser noch viel kräftiger schimmerte und strahlte, ganz so, als schwebten Hunderte Energiewesen um ihn herum und erhellten diesen Baum mit ihrer Lebensenergie. So etwas Wundervolles hatte er noch nie gesehen. Er stand auf und ging ein paar Schritte. Sein Rücken schmerzte immer noch leicht, aber das war er mittlerweile gewohnt. Nach einer guten halben Stunde, in der nichts passiert war, packte er die Flasche wieder in seinen Rucksack, sah noch ein letztes Mal hinauf zu der Baumspitze und verließ ernüchtert die Lichtung. Die Schmerzen hielten den ganzen Weg über an und wollten einfach nicht verschwinden, wie er es sich erhofft hatte. Als er den dunklen Teil des Waldes hinter sich gelassen hatte, kam er bei schönstem Sonnenschein wieder auf den Waldweg zurück. Er marschierte mit hängendem Kopf zu seinem Auto. Plötzlich spürte er einen heftigen Stich im Rücken, dann noch einen und nur eine halbe Sekunde später einen dritten. Frank glaubte schon, er müsste sterben, so immens waren die Schmerzen, doch genauso plötzlich, wie sie gekommen waren, waren sie wieder verschwunden. Er griff zu seinem Rücken, berührte die Stelle, die ihn seit vielen Jahren quälte. Er drückte vorsichtig darauf, doch zu seinem Erstaunen spürte er nichts. Da war kein Schmerz mehr. Nichts. Er drehte sich und bückte sich. Weg. Auch die neuen Beschwerden an seiner rechten Rückenseite hatten vollständig aufgehört, und als er versuchte, sich hinzuknien, ging das ebenso leicht wie in seinen Jugendjahren. „Es hat wirklich funktioniert!“, schrie er freudig ins Tal hinunter und dann tanzte und hüpfte er wie ein wildgewordener Bär im Kreis. „Das müssen meine Freunde gleich erfahren“, dachte Frank und sprang in sein Auto. Zwei Stunden Fahrzeit vergingen wie im Flug und der Erste, den er besuchte, war Michael. Er klingelte aufgeregt an seiner Tür. Als sich nichts tat, klopfte er kräftig, doch Michael, der um diese Zeit eigentlich immer zu Hause war, öffnete nicht. Egal, er machte sich auf den Weg in sein Stammlokal, denn dort war Bernd Barkeeper und der wusste sicher, wo Michael war. Dort angekommen, stand hinter dem Tresen Karl, ein Kollege von Bernd. „He, Karl, wo ist Bernd? Ich dachte, der hätte heute Dienst?“, erkundigte sich Frank und platzierte sich auf einem der freien Barhocker. „Hast du es denn noch nicht gehört, Frank?“, fragte Karl und verzog zerknirscht das Gesicht. „Nein, was denn?“ „Bernd hatte heute früh einen Herzinfarkt.“ „Oh Mann, wo liegt er denn? In welchem Krankenhaus?“ „Er ist nicht im Krankenhaus, Frank. Er ist gestorben.“ Frank war erschüttert. Er erhob kurz seine Hand zum Gruß und verließ geknickt das Lokal. Nochmals versuchte er, bei Michael zu klingeln, als die Nachbarin die Stiegen heraufkam. „Wenn sie den Herrn Maier suchen, der ist nicht da. Den haben sie heute früh geholt. Tot. Nicht mehr zu reanimieren gewesen. Irgendwas mit dem Herzen, glaube ich, zumindest war es das, was der Sanitäter gemurmelt hat.“ Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging die Nachbarin in ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Frank setzte sich auf die Stufen und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Das kann doch nicht sein! Zwei meiner Freunde tot und beide einen Herzinfarkt?“ Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur nächsten Telefonzelle. Er musste Walter anrufen. Um diese Zeit war der sicher schon in seinem Büro. Walter war selbständig, also war er der Erste, der kam, und der Letzte, der ging. Wollte man Walter erreichen, brauchte man ihn nur im Büro anzurufen, er war mit Sicherheit anwesend. Es klingelte einmal, zweimal, dann knackte es und eine weibliche Stimme meldete sich. „Steuerberatungskanzlei Berger, guten Tag!“ „Hallo, hier ist Herr Wimmer, ich möchte gerne Ihren Chef Walter Berger sprechen. Danke schön!“ Zuerst hörte er ein Räuspern, dann noch eines und schließlich antwortete die junge Dame mit weinerlicher Stimme: „Es tut mir leid, Herr Wimmer, aber Herr Berger ist heute früh unerwartet verstorben.“ Frank ließ den Hörer fallen, stolperte rückwärts aus der Telefonzelle und sein Gesicht verlor jede Farbe. Er ließ sich auf die Bank sinken, die gleich danebenstand, und starrte emotionslos in die Leere. Dann blickte er auf seine Hände, umfasste sein Gesicht und fing schließlich an zu schreien. Er schrie und schrie, bis seine Stimme versagte und die Tränen ihm wie Bäche die Wangen hinunterliefen. Er erkannte, dass die drei Blätter des Baumes, die er sich einfach so genommen hatte, um sein eigenes Leid ein für alle Mal zu heilen, den Tod für seine drei Freunde bedeutet hatten. Er hatte sich ihre Lebensenergie einfach einverleibt und erkannte jetzt mit Schrecken, dass der Baum nicht der Baum der Heilung war. Er sprang auf, setzte sich in den Wagen und fuhr zurück in den Schwarzwald. Bei der Pension angekommen, hielt er direkt vor dem Waldweg. Er schnappte sich seinen Rucksack und stolperte den Weg entlang hinein in den Wald. Die Pension, in der er am Vortag noch eingecheckt hatte, war nur noch eine alte, verfallene Ruine. Bereits seit vielen Jahren völlig von der Natur vereinnahmt, standen bloß noch die Außenwände des Gebäudes. Frank jedoch fiel es nicht auf. Er rannte wie besessen in den Wald und zu der alten Eiche. Er spürte nichts mehr. Sein Gesicht wurde von den Ästen völlig zerschunden und die Haut seiner Arme aufgeschlitzt. Er blutete aus vielen verschiedenen Wunden, doch er spürte nichts davon. Er hatte keine Schmerzen. Ständig blieb er an den Ästen hängen und zerriss sich seine Kleidung, bis diese nur noch in Fetzen herunterhing. Frank bemerkte nichts von alledem. Er jagte durch das Dickicht, durch den Wald, vorbei an Tannen, Föhren und dornigen Büschen, und als er schließlich so erschöpft war, dass er bereits auf allen vieren vorwärts kroch, sah er sie. Mächtig und strahlend stand sie da. Die Eiche schimmerte so hell, dass Frank sich die Hand vor die Augen halten musste. Er kroch langsam auf den Baum zu, setzte sich ganz nah zu ihm und lehnte sich an seinen dicken, alten Stamm. Er atmete schnell ein und aus. Wieder ertönte das Summen im Inneren, doch diesmal hörte er noch etwas anderes. Es klang wie leise Stimmen, Stimmen von Männern, von Frauen und hohe Stimmen von Kindern. Frank saß da und ließ den Tränen freien Lauf, sie tropften auf sein T-Shirt und seine Jacke. Er weinte um seine drei Freunde, er weinte wegen seines armseligen Lebens und er weinte wegen seiner dummen und narzisstischen Art. Er hatte alle für seine eigenen, egoistischen Zwecke ausgenutzt. Jahrelang, ohne Scham. Er weinte um seine Seele und um die Seelen derer, die in dieser Eiche gefangen waren. Er dachte an den Autor des Artikels, der ihn hierhergeführt hatte, an diesen magischen und doch so düsteren Ort. Frank dachte daran, welche Seele wohl für Anton Kieringer in diesen Baum gezogen worden war, nur damit dieser keine Schmerzen mehr gehabt hatte. Er dachte an die unzähligen Male, die ihm seine Freunde geholfen hatten, ohne jemals irgendeinen Dank dafür von ihm erhalten zu haben. Frank schluchzte und rieb sich die Nase mit dem Ärmel seiner Jacke ab, sodass ein hässlicher Fleck entstand. Er legte seine Wange an den Stamm und plötzlich hatte er eine Idee. Er horchte auf die Stimmen im Inneren und auf das leise Summen, umarmte den Baum und flüsterte leise: „Bitte gib meinen Freunden ihr Leben zurück. Nimm meines an ihrer statt. Ich habe solche Freunde nicht verdient und sie haben einen so frühen Tod nicht verdient. Ich bitte dich, nimm mich statt ihnen!“ Frank schaute hinauf in die Baumkrone, sah das helle Schimmern und erkannte mit verschwommenem Blick die vielen Lebensenergien, die in dieser Eiche gefangen waren. Frank hatte nicht nur keine Schmerzen mehr gewollt, sondern er hatte völlig gesund werden wollen, ohne Rücksicht auf irgendetwas oder irgendjemanden. Der Baum holte sich pro Blatt einen Menschen, die der Person wichtig war, die den Tee trank. Für Frank waren das Bernd, Walter und Michael gewesen, denn er war gierig gewesen und hatte sich gleich drei junge Blätter abgerissen. Damit hatte er ihre Leben einfach abgerissen, ohne es zu ahnen. Als Frank sich dessen bewusst wurde, weinte er wieder und dachte mit Liebe an seine Freunde. Wie oft waren sie für ihn da gewesen? Hatten immer etwas Geld für ihn übrig gehabt, sich sein Gejammere angehört oder ihm ein warmes Bett zum Schlafen zur Verfügung gestellt. Bernd, der ihm immer zugehört und nette Worte parat gehabt hatte, obwohl Frank nichts anderes konnte, als zu jammern und anderen die Schuld für sein Leid zuzuschieben. Walter, der mit seiner kleinen Kanzlei gerade so über die Runden kam und ihm doch immer wieder ein paar Euro zugeschoben hatte. Bei dem er schon so viele Schulden hatte, dass mehrere Leben nicht ausreichen würden, um sie zurückzuzahlen. Und Michael, der gutmütige Michael, der ihm, obwohl er ihn so oft schon aus dem Schlaf gerissen und ihm nie etwas Gutes zurückgegeben hatte, immer wieder seine Tür und seine Wohnung geöffnet hatte, um ihn bei sich schlafen zu lassen. Er dachte so lange und liebevoll an die drei, bis sein Körper sich mit dem Stamm des Baumes vereinigte. Er wurde eins mit der alten Eiche und sein Licht schloss sich den anderen Seelen des Baumes an. Am Ende lag dort nur noch ein kleiner Rucksack auf dem Waldboden. Als Frank einige Tage nicht mehr bei Bernd in der Bar auftauchte, sich kein Geld von Walter lieh oder Michael aus der Wohnung klingelte, weil er einen Schlafplatz brauchte, machten sich die drei Freunde echte Sorgen um ihn. Sie suchten nach ihm, doch an keiner der Stellen, an denen sie ihn vermuteten, war er anzutreffen. Schließlich stießen sie auf einen Hinweis im Browserverlauf von Michaels Computer. Sie fanden die Legende von der magischen Eiche im Schwarzwald und lasen von deren heilenden Kräften. Nach zwei weiteren Wochen fanden sie endlich Michaels Pickup, der immer noch mit offener Fahrertür neben der alten Ruine stand, die einst eine kleine gemütliche Pension gewesen war. Sie durchsuchten den Wagen und fanden die Karte. Nachdem sie die örtliche Polizei verständigt hatten, wurde nach Frank gesucht. Mit Hunden und Freiwilligen liefen sie eine Woche lang das Gebiet rund um die alte Pension ab, bevor sie die Suche abbrachen. Walter, Bernd und Michael suchten noch eine weitere Woche lang allein nach ihrem Freund und versuchten, aus dem Gekritzel auf dem Zettel schlau zu werden. Viele Linien waren zu erkennen und ganz rechts oben war ein rotes Kreuz zu sehen, doch die Karte ergab keinen Sinn. Sie führte ins Nichts. Schließlich brachen auch Franks Freunde schweren Herzens die Suche ab und fuhren zurück in die Stadt, um bei einem Glas Bier in Bernds Bar eines alten Kumpels zu gedenken. Ihr Freund Frank Wimmer wurde nie wieder gesehen. © by Michaela Brenner 2018
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Kurzgeschichte