…und Virginia rannte los (eine Geschichte, die in der Zeit meiner Ausbildung zur Medienfachfrau entstanden ist) Virginia rannte los, sah kurz auf ihre Uhr und erkannte mit Schrecken, dass sie nur noch wenige Minuten hatte. Sie lief, als ob ihr Leben davon abhinge. Vorbei an all den Menschen, die ihr in diesem elend langen Gang entgegenkamen, und an denjenigen, die langsam vor ihr herschlichen. Wirklich eilig hatte es keiner von ihnen, sie schlenderten vorbei an bunten Geschäften, aus denen wunderbare Gerüche strömten, an winzigen Cafés mit nur einem einzigen Stehplatz, an Minishops, in die man nur das Nötigste unterbrachte und Stauraum ein Luxus zu sein schien. Virginia hatte keine Ahnung von den Dingen, die um sie herum passierten. Sie rannte im Zickzack den Gang entlang, wand sich durch die Massen und arbeitete sich so bis zur Rolltreppe vor, die sie mit großen Schritten hinunter sprang, wobei sie beinahe einige der mitrollenden Menschen mit sich riss. Einen kurzen Blick der Entschuldigung an sie gerichtet, ging es weiter. Vorbei an einem Schuhgeschäft, das gerade von einer Gruppe junger Mädchen belagert wurde und dessen netter Verkäufer völlig überfordert zu sein schien, einem kleinen Greißler, der sich darüber ärgerte, dass sich genau gegenüber eine Lebensmittelkette eingenistet hatte, und an einem Juwelier, dessen Angestellte gelangweilt hinterm Tresen stand. Alles das sah Virginia nicht, sie hatte nur ein Ziel vor Augen, sie musste es schaffen, bevor die Zeit ablief. Sie hatte nicht mehr die Kondition wie früher, obwohl sie im selben Moment dachte, dass sie nie wirklich viel Kondition hatte. Immer schon waren die überflüssigen Pfunde ein Grund dafür gewesen, dass sie nicht gerade erpicht darauf war, etwas Sport zu treiben. Nie war jemand da, der sie dazu motiviert hätte, also wuchs sie damit auf und lernte damit zu leben. Doch jetzt verfluchte sie ihr Gewicht und all die vielen Abende, an denen sie wieder einmal keine Kraft aufgebracht und sich Chips und Knabberzeugs reingestopft hatte. Jahrelang hatte sie keinen Freund gehabt und es hatte daher auch keinen Grund gegeben, etwas gegen die unnötigen Kilos zu machen. Auf den Gedanken, für sich selbst etwas zu tun, kam sie dabei nie. Virginia keuchte bereits gefährlich laut. Eigentlich sollte sie eine Weile stehenbleiben und ihrem armen Herzen etwas Ruhe gönnen, doch in ihrer linken Gehirnhälfte hämmerte immer wieder dieser eine Satz: „Wenn du es nicht schaffst, kannst du dir am Wochenende anhören, wie armselig du eigentlich bist und dass du es nicht einmal bewerkstelligen konntest, diese Kleinigkeit für ihn zu erledigen.“ Die rechte Gehirnhälfte war da schon etwas entspannter: „Vergiss es, am Montag ist auch noch ein Tag, er wird schon nicht umkommen, wenn er dieses blöde Zeugs nicht gleich bekommt.“ Nun fingen die beiden Gehirnhälften an, miteinander zu diskutieren, und Virginias Lunge sprach auch noch einige Worte mit. Linkes Gehirn an die anderen: „Sie hat es ihm doch versprochen, sie hat ihm gesagt, sie werde ihm sein Computerteil mitnehmen, wenn sie von der Arbeit nach Hause fährt. Er verlässt sich doch darauf!“ Rechtes Gehirn darauf: „Er hat doch selbst genug Zeit, hätte sich diesen Kram auch längst selbst holen können!“ „Ja, aber…“, wollte das linke Gehirn bereits wiedersprechen, als sich die Lunge zu Wort meldete: „Haltet doch die Klappe, alle beide! Die einzige, die sich hier wirklich aufregen sollte, wäre wohl ich, oder? Ich kollabiere gleich, nur weil Madam denkt, sie könne auch ohne Bewegung gut leben, und ich darf das jetzt ausbaden!“ Alle waren daraufhin wieder still und Virginia rannte weiter. Sie wollte ihren neuen Freund nicht enttäuschen. Sie wusste ja insgeheim, dass er ihr nicht böse sein würde, wenn sie dieses Teil nicht mitbringen sollte. Doch sie wollte es einfach tun, sie wollte ihr Versprechen halten und damit zeigen, wie sehr ihr an ihm lag. Als sie sich aus ihren Gedanken riss, sah sie vor sich das langersehnte Geschäft, sie sah auf die Uhr, noch fünf Minuten. Erleichtert und mit gemäßigtem Tempo schritt sie durch die elektronischen Türen, die sich leise surrend vor ihr öffneten und sich hinter ihr genauso leise und surrend wieder schlossen. Sie atmete durch, ihr Herz pumpte wie wild, die Lunge fing an zu stechen, die Füße schmerzten ganz furchtbar, aber sie hatte es geschafft, sie war noch vor Ladenschluss am Ziel. Sie holte sich das Teil für den Computer, zahlte an der Kasse und schlenderte gemächlich durch die vielen Gänge des Einkaufszentrums. Vorbei an einem Fleischer, bei dem sich all die hungrigen Mäuler des Zentrums versammelt hatten, wie es schien, vorüber an einem Reisebüro, in dessen Auslage eine wunderbare, sonnige Strandlandschaft zu bewundern war und daneben eine Zugreise nach Paris angepriesen wurde. „Zug? Mist, mein Zug fährt in …!“ Virginia sah wieder nervös auf ihre Uhr. Sie hatte noch zehn Minuten, bis ihre Schnellbahn sich vom Bahnhof verabschiedete, und sie musste ans andere Ende des Einkaufszentrums. ...und Virginia rannte los (Anmerkung ihrer Lunge: Oh mein Gott !) © by Michaela Brenner 2012
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