Die Geburt

So rasch es ihr möglich war, lief Sarah die Straße entlang. Der Himmel war bereits mit dunklen Gewitterwolken überzogen und kaum eine Sekunde später begann es auch schon zu regnen. Dicke, lauwarme Tropfen klatschten ihr so heftig ins Gesicht, dass sie sich die Hand über die Augen halten musste. Die Innenstadt wimmelte um diese Zeit von Menschen jeder Herkunft. Alle hatten es schlagartig eilig, aus dem Regen heraus ins Trockene zu gelangen. Von der Straße ertönte das Geschimpfe eines völlig genervten Autofahrers, der dem jungen Mann im schwarzen Sportwagen hinter ihm etwas zuschrie, während dieser wie besessen hupte: »Ich schlag dir gleich deine verdammte Hupe in die Visage, wenn du nicht damit aufhörst! Vollidiot!«. Sarah lief schneller. Nasse Zeitungsblätter klebten auf der Straße und eine leere Zigarettenschachtel kullerte vor ihr her. Ganz kurz nur, als der Regen zu heftig wurde, flüchtete sie unter einen Torbogen und beobachtete die großen Tropfen, die vor ihr auf den Boden aufschlugen, nach allen Seiten spritzten und sehr schnell große Lachen bildeten. Der Himmel begann, sich immer mehr zu verdunkeln. Grell aufleuchtende Blitze huschten über das regenverhangene Firmament und der darauffolgende Donner ließ viele Leute vor Schreck zusammenzucken. Neben ihr, im beinahe trockenen Torbogen, stand eine kleine alte Frau, die ängstlich in den Himmel blickte. Sarah wollte die Alte schon mit ein paar netten Worten beruhigen, als ein heftiger Schmerz ihren Körper durchzuckte. Die Greisin drehte sich zu ihr um und lächelte. »Es ist wohl schon an der Zeit, meine Liebe, nicht wahr, ist es doch?«, krächzte sie freundlich. Sarah versuchte, zu antworten, doch zu groß waren ihre Schmerzen. Sie musste dringend weiter. Sie lächelte nur, nickte kurz und lief aus dem Torbogen hinaus auf die Straße. Im Takt ihrer Schritte atmete sie tief ein und aus und rieb sich ihren Bauch. Die Kleine will wohl genau jetzt kommen, dachte Sarah ängstlich, doch der Schmerz verschwand nach einigen Sekunden wieder. Den Kragen ihrer Jacke höher gezogen, rannte sie weiter, doch das Regenwasser fand bereits einen Weg ins Innere und lief ihr kalt über den Rücken. Bevor Sarah sich entschließen konnte, die U-Bahn zu nehmen und zu riskieren, ihr Baby in einem restlos überfüllten und stickigen U-Bahnwaggon zu bekommen, tauchte aus dem dichten Verkehr ein freies Taxi auf. Schnell versuchte sie, es heran zu winken. Als der Fahrer sie bemerkte, kam er nur wenige Millimeter vor ihren Zehen zum Stehen. Verwirrt und erschrocken schüttelte Sarah den Kopf, wäre er ihr doch glatt über die Füße gefahren. Mit zittrigen Händen öffnete Sarah die Wagentür und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Erleichtert atmete sie aus, gab dem Taxifahrer die Adresse des Krankenhauses und forderte ihn auf, schnell zu machen. Da dieser auf keinen Fall riskieren wollte, dass die Frau ihr Kind ausgerechnet in seinem Taxi bekam, befolgte er ihre Anweisung ohne ein weiteres Wort. Als er das Gaspedal durchdrückte, bereute Sarah ihre Worte bereits. Um sich von den Schmerzen der Wehen abzulenken, hielt sie ihren Blick stur auf den Hinterkopf des Taxifahrers gerichtet. Sie starrte die kleine, runde Stelle an, die sich bereits zu lichten begann. Ein kleiner Kreis, kaum sichtbar doch eindeutig vorhanden. In ein paar Jahren, vielleicht sogar schon Monaten, je nach Stresslevel, würde man bereits nur noch die Kopfhaut sehen, die rosa hervorleuchtete. Der Fahrer fluchte leise vor sich hin, als ein rüder Motorradfahrer sich vor ihm in die Reihe zwängte. Das Taxi brach abwechselnd nach links und rechts aus, um sich im Zickzack durch den dichten Verkehr zu winden. Es regnete immer stärker, während sie über die Hauptstraße nach Westen fuhren. Die Straße hatte sich in einen großen, mattgrauen Spiegel verwandelt. Die meisten Fußgänger hatten ihre Regenschirme aufgespannt und viele, die nicht das Glück hatten, am Morgen an einen Schirm gedacht zu haben, flüchteten sich in Hauseingänge und offene Geschäfte. Es wurde immer düsterer und die Feuchtigkeit begann langsam, auch ins Wageninnere zu kriechen. Über der Stadt ballten sich immer mehr schwarze Wolken zusammen und der Regen strömte so heftig, dass die Scheibenwischer des Taxis kaum noch dagegen ankamen. Das Prasseln der Tropfen auf dem Wagendach hörte sich an wie fernes Maschinengewehrfeuer. Sie fühlte sich wie in einem Kriegsgebiet und war doch so weit davon entfernt. Sarah dachte an ihr Baby und streichelte zärtlich ihren Bauch. Mit beruhigenden Worten flüsterte sie ihm zu, dass es keine Angst haben müsse, es wäre ja nur ein Gewitter. Doch ihr Zuspruch galt mehr ihr selbst als dem ungeborenen Kind. Einen Moment lang hörte das Geprassel des Regens auf, als sie durch einen Tunnel fuhren, doch schon im nächsten Moment, als sie ihn wieder verließen, zerriss ein höllisch lauter Knall ihr beinahe das Trommelfell. Glassplitter wurden durch das Wageninnere geschleudert und instinktiv duckte sie sich. Sarah ließ sich quer auf den Rücksitz fallen und rollte sich zusammen, um ihren Bauch und das junge Leben darin zu beschützen. Etwas Hartes, Metallisches bohrte sich quietschend durch die Beifahrertür und den Sitz vor ihr und kam nur wenige Zentimeter vor ihrem Bauch zum Stillstand. Plötzlich fühlte sie furchtbare Schmerzen an ihrer rechten Körperseite und etwas Warmes, Klebriges lief über ihr rechtes Auge hinunter zu ihrem Mund. Sie schmeckte Blut. Irgendjemand schrie um Hilfe. Eine weitere Stimme jammerte unaufhörlich Oh mein Gott, oh mein Gott und wieder ein anderer redete mit unerwartet leiser, sanfter Stimme auf sie ein. Sie verstand nicht, was er sagte, aber es klang so trostreich in ihren Ohren, dass sie sich ein wenig entspannte. Ihr war übel und alles drehte sich wie in einem Karussell. Augenblicklich hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, doch sie konnte diesen Gedanken nicht festhalten. Einen Sekundenbruchteil später wurde es schwarz um sie herum. Als Sarah wieder zu sich kam, sah sie einen jungen Sanitäter an ihrer Seite. Ein skurril aussehender Typ mit orange gefärbten Haaren. Was ist das?, dachte sie und trotz großer Schmerzen überkam sie der Impuls, zu kichern. Doch ein erneuter Schmerz in ihrem Bauch riss sie aus ihren Gedanken und holte sie in die Realität zurück. Um sich abzulenken und nicht wieder das Bewusstsein zu verlieren, betrachtete sie den Sanitäter, prägte sich alles genau ein. Der junge Mann hatte ein schreckliches Piercing an der Augenbraue und eine blaue John-Lennon-Brille auf der Nase. Er schaute kurz zu ihr hinunter und als er bemerkte, dass sie die Augen geöffnet hatte, lächelte er sie an. Seine Zähne waren gelblich verfärbt und ließen Kaffee und Zigarettenmissbrauch vermuten. »Es wird alles wieder gut, nur keine Angst!«, sagte er. Sie schloss einen Moment ihre Augen und konzentrierte sich ganz auf ihr Baby. Dann wurde eine Tür geöffnet und eine weibliche Stimme rief: »Hier rein, na los, jetzt muss alles schnell gehen!« Sarah hörte noch das piepende Geräusch des Herzmonitors, an den sie angeschlossen wurde. Doch schon bald begannen die Menschen und der Raum, in dem sie sich befand, zu verschwimmen. Sie dachte an ihr kleines Mädchen, das sie unter ihrem Herzen trug und wusste im selben Augenblick, dass sich ihr Schicksal soeben erfüllte. Sie hatte ihn in einer Vision gesehen: ihren eigenen Tod. Nun musste sie ihre kleine Tochter zurücklassen in einer Welt voller Gefahren und Hindernisse. In einer Welt, die langsam, aber sicher zugrunde ging. Ein Kind, geboren in eine untergehende Welt. Geboren, um eine Prophezeiung und ihr Schicksal zu erfüllen. Geboren, um eine erkrankte Welt zu retten.

DIE ENTSCHEIDUNG

»Oh, mein Gott, sieh dir nur dieses entzückende Baby an. Und wie sie lächelt«, sagte die Kinderschwester begeistert. Alle in der Klinik waren hingerissen von dem kleinen Waisenmädchen, das den Namen Kyra bekommen hatte. Eine junge Assistenzärztin fand einen blutigen Zettel im Mantel von Sarah, auf dem Meine kleine Kyra geschrieben stand. So kam das Mädchen zu seinem wundervoll klingenden Namen. Sie war der Liebling aller Schwestern und Ärzte. Nie hörte man sie weinen. Dieses kleine Geschöpf war ein ungewöhnlich stilles Kind, getrennt von der mütterlichen Liebe und Zärtlichkeit, die ein Neugeborenes so dringend brauchte. Und doch, wenn sie lächelte, dann öffneten sich die Herzen der Menschen, die sie betrachteten. Nach dem Tod ihrer Mutter, bei der man weder Papiere fand noch ihre Identität feststellen konnte, wurde Kyra von der Fürsorge übernommen, die daraufhin recht schnell die Adoption in die Wege leitete. Einige Ehepaare, die zum Teil schon sehr lange auf ein Kind warteten, standen zur Auswahl. Eines dieser Paare, die sich sehnlichst ein Kind wünschte, waren Ian und Megan O’Brien. Ian, ein junger Pilot eines Dubliner Multikonzerns, und seine Frau Megan, eine Übersetzerin der UNO. Seit einigen Jahren schon versuchten die beiden vergeblich, selbst ein Kind zu bekommen, doch nach reiflicher Überlegung und vielen durchdiskutierten und verheulten Nächten entschlossen sie sich dazu, ein Kind zu adoptieren und nun auf diesem Weg eine eigene kleine Familie zu gründen. Es war ein schöner sonniger Tag. Silvia Langer, die Dame von der Adoptionsstelle, war bereits vor der Kinderklinik eingetroffen. Ein luftiges Sommerkleid umspielte Silvia Langers Beine als sie durch die Eingangstür der Klinik trat. Die Adoptionsunterlagen hatte sie unter den Arm geklemmt. Sie hatte sich die Entscheidung keinesfalls leicht gemacht, doch nach ausgiebiger Recherche und reiflicher Überlegung war ihre Wahl auf die O’Briens gefallen. Das war die richtige Entscheidung und ganz im Sinne der kleinen Kyra, da war Silvia sich sicher. Silvia Langer war eine kleine dralle Persönlichkeit, mit schulterlangen rostbraunen Haaren und leuchtend blauen Augen. Sie war immer fröhlich, verbreitete ihre positiven Energien so gut sie nur konnte und war sehr beliebt bei ihren Kollegen und dem Krankenhauspersonal. Schon so manches kleine Geschöpf wurde von ihr vermittelt und immer an einen ganz besonderen Platz. Es war ganz logisch, dass auch Kyra solch einen besonderen Platz bekommen sollte. »Kommen Sie, wir wollen uns den kleinen Sonnenschein mal ansehen!«, sagte sie strahlend nachdem sie die O’Briens herzlich begrüßt hatte und marschierte gut gelaunt voran. Sie durchquerten einen kurzen Gang, in dem ihre Schritte auf dem gefliesten Boden ein seltsam hallendes Echo hervorriefen, gingen durch einen mit abgenutzten braunen Bänken ausgestatteten Flur und betraten durch eine weitere Glastür hindurch die Säuglingsstation. Sie war hell, freundlich und mit fröhlichen Farben gestrichen. An den Wänden hingen Dankeskarten von pausbäckigen Babys, überglücklichen Müttern und stolzen Vätern. Sie gingen weiter und kamen schließlich zu dem Zimmer, in dem sich auch Kyras Bettchen befand. Durch die Scheibe sahen sie vier Babys in ihren kleinen Bettchen liegen. Sie sahen einfach nur entzückend aus. Zwei schliefen und eines schrie und beschwerte sich lauthals. Möglicherweise hatte es Hunger oder das arme Würmchen wurde gerade von Darmwinden gequält. Die diensthabende Säuglingsschwester nickte freundlich, als sie Silvia Langer erkannte. Sie wusste bereits, um welchen ihrer Schützlinge es ging und hob Kyra vorsichtig aus ihrem Bettchen. Nach kurzer Zeit des Wartens öffnete sich die Tür und die Schwester kam mit Kyra am Arm heraus. Megan bekam Kyra in die Arme gelegt. Diese hatte ihre großen blauen Augen geöffnet und strahlte mit der Kinderschwester um die Wette. Irgendwie hatte dieses Baby etwas Magisches an sich. In ihrer Nähe vergaß man einfach alle Sorgen. Silvia Langer sah von Kyra zu den O’Briens, deren Gesichter das absolute Glück widerspiegelte, wie man es nur bei frischgebackenen Eltern sehen konnte und noch im selben Moment wurde ihr klar: Kyra hatte ihre Familie gefunden. *** Kurz nachdem sie Kyra adoptiert hatten, kündigte Megan ihren Job bei der UNO und arbeitete freiberuflich als Übersetzerin von zu Hause aus. So hatte sie viel Zeit für ihre Tochter und trotzdem eine sinnvolle Beschäftigung, die gutes Geld brachte. Sie verließen die Großstadt, zogen aufs Land und kauften sich ein kleines geräumiges Häuschen mit einem wundervoll angelegten Garten. Kyra bekam eine Rutsche und eine Schaukel, die an einem riesigen Kirschbaum befestigt wurde. Es war ein richtiges Spieleparadies und Megan hoffte bereits am Tage ihres Einzugs, hier bald viele Nachbarkinder begrüßen zu können. Doch nur vier Jahre später, an einem sonnigen Nachmittag im Juni, veränderte sich von einem Moment auf den anderen einfach alles. Kyra spielte wie jeden Tag hinten im Garten, als eine schwarze Limousine vor dem Haus hielt und zwei uniformierte Männer ausstiegen. Sie setzten sich ihre Offizierskappen auf, richteten ihren Rock und schritten, beinahe im Gleichschritt wie Militärs das eben machten, durch den Vorgarten auf die Haustür zu. Kyra lief zu der kleinen Holztür, die den vorderen vom hinteren Teil des Gartens trennte. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, sich geradezu langmachen, damit sie die beiden Männer noch sehen konnte. Der jüngere Mann der beiden klopfte an die Haustür und nach einer Weile wurde sie geöffnet. Kyras Mutter trat heraus und redete mit den beiden Uniformierten. Der ältere Offizier sprach so leise zu ihr, dass Kyra nicht verstehen konnte, was er sagte. Neugierig versuchte sie, sich auf die oberste Sprosse der kleinen Holztür zu stellen, um wenigstens besser sehen zu können, was ihr auch gelang, aber hören konnte sie immer noch nichts. Als er geendet hatte, bat ihre Mutter die beiden ins Haus. Kyra seufzte laut und ging ein klein wenig enttäuscht zurück zu ihrer Schaukel. Sie setzte sich wieder darauf und begann etwas ungelenk mit den Beinen Schwung zu holen. Da plötzlich wurde sie völlig unerwartet von hinten leicht angeschubst. Als sie sich umsah, stand ihr Vater hinter ihr, lächelte sie an und gab ihr immer wieder einen leichten Schubser. Kyra quietschte vor Vergnügen. Sie war überglücklich, dass ihr Daddy wieder einmal zuhause war und mit ihr spielte. Durch seinen sehr anstrengenden und zeitaufwändigen Job war es ihm nicht immer möglich, zu Hause zu sein, doch heute war er da und schubste sie immer wieder an, es war wunderbar. Doch plötzlich hielt er inne, kam nach vorne und hockte sich vor Kyra ins Gras. Er nahm ihre kleinen Hände in die seinen und sah ihr tief in die Augen. »Mäuschen, ich habe dich ganz toll lieb, das weißt du doch, oder?« Kyra nickte und blickte ihren Vater etwas unsicher an. Kurz sah er zu Boden, bevor er seinen Blick wieder auf seine Tochter richtete. »Ich wusste immer, dass du ein ganz besonderes Mädchen bist, dass du eine besondere Aufgabe im Leben hast und ein Schicksal erfüllen musst.« Kyra sah ihren Vater an und ohne dass es ihr bewusst war, verstand sie. »Meine Kleine, ich bin hier, um mich von dir zu verabschieden und damit du Mami sagen kannst, dass ich sie sehr, sehr lieb habe und sie nicht traurig sein soll, denn es geht mir wirklich gut, dort wo ich jetzt hingehen werde. Sag ihr bitte, sie muss unbedingt mit dir nach Irland zurückkehren. Es ist sehr wichtig, dass sie das tut, denn genau dort wartet dein Schicksal auf dich. Kannst du das? Kannst du das für mich tun, Mäuschen?« Kyra nickte und blickte mit großen Augen auf ihren Vater hinunter, der noch immer vor ihr kniete. »Ich muss jetzt gehen, Kyra, aber es wird alles wieder gut, hörst du?«, sagte er leise und löste seine Hände aus den ihren. »Daddy?«, fragte Kyra. »Sehen wir uns wieder?« »Eines Tages sehen wir uns wieder, Kleines«, sagte er lächelnd. »Mach‘s gut Daddy!«, sagte Kyra, schloss ihre Augen und gab ihrem Vater noch einen Kuss auf die Wange. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war er verschwunden. Im selben Moment hörte Kyra, wie die Haustür geöffnet wurde. Leise schlich sie sich durch die Hintertür ins Haus. Sie ging durch den Flur ins Vorzimmer und konnte gerade noch sehen, wie die beiden Männer das Haus verließen und ihre Mutter die Tür hinter ihnen schloss. Kyra ging zu ihr und blickte fragend zu ihr hoch. Verstohlen wischte Megan sich über die Augen, doch Kyra hatte ihre Tränen längst bemerkt. Megan drehte sich zu ihrer Tochter, kniete sich vor sie wie zuvor der Vater. Sie nahm sie in den Arm und hielt sie ganz fest. Nachdem sie sich wieder von ihr gelöst hatte, reichte sie dem kleinen Mädchen die Hand und führte es ins Wohnzimmer. Dort setzten sich die beiden auf die alte Couch. Megan nahm Kyra auf den Schoß und hielt ihre kleinen Händchen fest in den ihren. Sie atmete tief durch. »Spatz, ich muss dir was sagen!« Kyra zog ihre Hände aus dem sanften Griff ihrer Mutter und nahm im Gegenzug deren große Hände in ihre kleinen, ganz so, als wäre sie die Mutter und Megan das Kind. »Daddy war hier«, sagte die Kleine. Megan starrte ihre Tochter mit offenem Mund an. »Ich soll dir sagen, dass er dich sehr, sehr lieb hat und du nicht traurig sein sollst, denn es geht ihm gut dort, wo er jetzt ist, aber er muss jetzt gehen.« Megan schnappte hörbar nach Luft. Was redete sie da und woher wusste sie, dass…? Sie hatte doch nicht etwa alles mit angehört? Die schreckliche Nachricht, die die beiden Offiziere ihr überbracht hatten? Kyra sah ihrer Mutter ins Gesicht als wisse sie genau, was diese dachte. »Er sagte auch, du sollst mit mir nach Irland gehen, denn dort ist mein Schicksal. Was ist ein Schicksal, Mami?« Megan konnte immer noch keine Worte finden. Gerade erst hatte sie erfahren, dass der Jet, den ihr Mann gesteuert hatte, über den Alpen in ein Gewitter geraten war und es vermutlich durch einen Blitzschlag zum Absturz kam. Die Maschine konnte so hoch oben noch nicht geborgen werden, weshalb noch nicht klar war, ob es überhaupt Überlebende gab. Ein Such- und Rettungstrupp war jedoch unterwegs. Wie konnte da ein kleines vierjähriges Mädchen bereits wissen, dass ihr Vater möglicherweise nicht mehr nach Hause kommen würde? Megan verstand es einfach nicht Ihre Gedanken fuhren Achterbahn und vor lauter Verzweiflung begann sie zu weinen. Kyra drückte sanft ihre Hände. »Nicht weinen, Mami. Daddy hat gesagt, es wird alles wieder gut.«

DIE GEHEIMNISVOLLE TRUHE

Dreizehn Jahre waren seit dem unglücklichen Tag verstrichen, an dem Kyra ihren Vater verloren hatte und ihre Mutter ihren Mann. Megan hatte einige Monate gebraucht, um darüber hinwegzukommen, doch schließlich hatte sie ihr ganzes Hab und Gut gepackt, das Haus verkauft und war mit Kyra nach Irland gezogen. Megan wusste nicht, warum er sie nach Irland geschickt und was das alles mit Kyra zu tun hatte, aber mit der Zeit kam sie zu der Ansicht, dass es hier nichts mehr gab, was sie hielt. Kyra fand das gut, denn so hatte es ihr Vater gewollt und so wollte auch sie es. Sie übersiedelten nach Keylloch, einer kleinen Stadt in der Grafschaft Kerry im Südwesten Irlands. Eine alte Großtante von Megan lebte dort. Susanna O’Mealy, eine kleine, weißhaarige Lady mit einer unbeschreiblich hilfsbereiten Ader, die die Einwohner von Keylloch des Öfteren genießen durften, hieß Megan und die kleine Kyra mit großer Freude willkommen. Die Stadt lag in einem Tal der MacGillycuddy‘s Reeks, Irlands höchstem Gebirgszug und an den Ufern von drei prachtvollen großen Seen, die Teil des Nationalparks waren. Einer dieser Seen war der Lough Leane, dessen irische Bezeichnung Loch Léin die wunderschöne Bedeutung See des Lernens hatte. Megan erinnerte sich an ihre Kindertage. Immer wenn sie Tante Susanna besuchten, verbrachte sie viel Zeit an diesem See und sie erinnerte sich auch, wie sie und der Nachbarjunge Connor O'Donoghues gemeinsam am Steg saßen, die Füße ins Wasser hängend und jeder ein Buch im Schoß. Sie liebte diese Momente der Stille und der Junge an ihrer Seite genoss es, in ihrer Nähe zu sein, ohne jemals wirklich ein Buch gelesen zu haben, was er natürlich für sich behielt. Er war in dieses hübsche Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar und den süßen Sommersprossen auf der Nase so unsterblich verliebt, wie nur ein kleiner Junge verliebt sein konnte. Doch er hatte nie gewagt, ihr seine Gefühle zu gestehen. Megan war einige Jahre später mit ihren Eltern nach Österreich gezogen und so verloren sich die beiden Kinder, die so gerne am Lough Lane saßen, - jeder aus einem anderen Grund - aus den Augen. Megan hatte Kyra oft zu diesem für sie so besonderen Platz mitgenommen und ihr Geschichten darüber erzählt. Später als Kyra alt genug war, um allein dorthin zu gehen, saß sie oft auf demselben Steg, wie einst ihre Mutter und las ein Buch. Nur der Junge an ihrer Seite, der fehlte noch. *** Kyra schlief unruhig in dieser Nacht. Immer wieder warf sie sich von einer Seite auf die andere. Ein beängstigender und wirrer Traum quälte sie. Sie bemühte sich nach Kräften aufzuwachen, aber es gelang ihr nicht. Schon beinahe verzweifelt versuchte sie, sich in den Arm zu kneifen, aber der Albtraum hielt sie fest in seinen Fängen. Kyra stöhnte leise, konzentrierte sich dann noch einmal und fuhr mit einem erstickten Schrei hoch.
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